Geschichten

Erste Gute Nachbarschaftsgeschichte

Rüdiger und die Schlaftablette – oder einmal Heim, immer Heim

2004 bekam ich vom Amtsgericht eine Betreuung. Rüdiger Weißmüller (Name geändert) Jahrgang 1944, lebte in einer Mietwohnung. Da er blind war, konnte er seine Verwahrlosung nicht mehr bemerken. Als ich Rüdiger erstmalig besuchte, dachte ich an Abbe Faria aus „Der Graf von Monte Christo“. Bart und Haare waren genauso lang wie im Film. Aufgrund der Unbewohnbarkeit der Wohnung und des Gesundheitszustandes entschied ich mit Rüdiger, dass eine Heimunterbringung sofort erfolgen muss. Ein paar Tage später fand die Heimunterbringung statt. Unmittelbar nach der Heimaufnahme wurde Rüdiger gebadet, rasiert, das Haar wurde geschnitten und er wurde neu eingekleidet. Rüdiger war nicht mehr wieder zu erkennen. Obwohl er blind war, fand er sich im Heim gut zurecht. Das Pflegepersonal war stets hilfsbereit und freundlich. Ein Jahr später brachte eine Augenoperation das Augenlicht von Rüdiger wieder zurück. Zuvor war sehr viel Überzeugungsarbeit erforderlich, um die Angst vor der OP von Rüdiger wegzunehmen. Schließlich willigte Rüdiger in die OP ein und ein Auge wurde operiert. Er konnte nun die Sonne und die Menschen sehen, die ihn umgaben…

2008 teilte mir Rüdiger mit, er möchte das Heim wechseln, da er die Menschen um ihn herum wegsterben sieht. Da er seine Bitte bei jedem Besuch von mir wiederholte, entschied ich mich für den Wechsel. Dabei konnte Rüdiger das Heim selbst aussuchen. Kurz nach dem Umzug stellten Rüdiger und ich fest, dass der Aufenthalt im neuen Heim nicht angenehm sein wird. Ich wurde fast täglich vom Heimpersonal mit Anrufen bombardiert, weil Herr Weißmüller ungehalten sei. Rüdiger bat mich ständig, ihn aus dem Heim rauszuholen und vielleicht eine Wohnung zu suchen. Das Pflegepersonal riet mir stets davon ab, weil Herr Weißmüller „schwierig“ und „dement“ sei. Da ich Rüdiger stets orientiert und geistig sehr fit erlebte, entsprach die Aussage des Pflegepersonals nicht den Tatsachen. Obwohl ich mir nicht sicher war, ob die Anmietung einer Wohnung die richtige Entscheidung ist, ging ich auf Wohnungssuche. Mir war es bewusst, dass diese Entscheidung sehr viel Arbeit für mich bedeuten würde. Im Vordergrund stand für mich die Überlegung, Rüdiger soll die Chance erhalten, das Heim zu verlassen. Keiner außer mir, kann ihm dies ermöglichen, denn einmal Heim, immer Heim. Da der gesetzliche Betreuer per Gesetz mit Macht ausgestattet ist, hat er die Macht, Betreute in Heimen unterzubringen und sie dort bis zum Lebensende zu belassen. Denn das „Andere“ ist mit sehr viel Arbeit verbunden.

Nun fand ich eine Wohnung. Erdgeschoss, Citylage und viel zu sehen, wenn man aus dem Fenster raus schaut. Das Richtige für Rüdiger – dachte ich – und wenn es „schief geht“, da ist eine erneute Heimunterbringung für Rüdiger immer möglich… Als ich beim Grundsicherungsamt den Antrag auf Übernahme der Mietkosten stellte, wunderte sich der Sachbearbeiter sehr. Er meinte, er hätte bisher nie erlebt, dass Betreuer Menschen aus Heimen herausholen… Ausgestattet mit der Zusage, die Wohnung anzumieten und einzurichten, verließ ich zuversichtlich das Grundsicherungsamt. Innerhalb weniger Stunden wurde die Wohnung (1 Zimmer, Kochnische, Bad), mit Hilfe von Menschen, die ich zuvor organisiert hatte, komplett eingerichtet.

Vom ersten Augenblick an, liebte Rüdiger seine „Kleine Welt“, die aus 17 qm besteht mit Auslauf zum Hinterhof. Mit dem Verlassen des Heimes bekam Rüdiger vier Sorten Tabletten mit. Darunter war auch eine Schlaftablette für die Nacht. Ein paar Tage später suchte ich mit Rüdiger eine Ärztin auf, die sich sehr viel Zeit für Rüdiger nahm. Sie war der Auffassung die Schlaftablette für die Nacht soll Rüdiger weglassen und dabei testen, wie der Schlaf ist. Eine Magentablette wurde ebenfalls abgesetzt.

Nun lebt Rüdiger seit Ende August 2010 in der Mietwohnung und ist mit sich zufrieden. Eine Haushaltshilfe unterstützt Rüdiger beim Einkaufen und bei der Körperpflege. Die Sozialstation überwacht die Einnahme von zwei Medikamenten, die Rüdiger benötigt. Neben der Anmietung und Einrichtung der Wohnung war die Organisation der Hilfen für Rüdiger für mich mit sehr viel Aufwand und Arbeit verbunden. Rüdiger ist völlig orientiert – von Demenz keine Spur. Und die Schlaftablette, die man ihm abends im Heim verabreicht hat, benötigt er von Anfang an nicht mehr.

Die Einnahme von Schlaftabletten gehört für die Heimbewohner zum Alltag. Rüdiger ist dabei kein Einzelfall. Er hätte sie bis zum Lebensende einnehmen müssen, wenn er im Heim geblieben wäre. Es stellt sich nun die Frage, welche Verantwortung trägt dabei der Arzt, der die Schlaftablette verordnet. Werden dabei die Bedürfnisse des Heimbewohners auf Selbstbestimmung berücksichtigt oder die Bedürfnisse von Heimeinrichtungen, die aus Profitgier mit immer weniger Personal auskommen wollen?

Vita Zingale

Zweite Gute Nachbarschaftsgeschichte

Gute Nachbarschaft ist ein Geschenk Gottes. Ich bin Ehrenamtliche Hospizhelferin. Im Vorfeld hatte ich auch einen Kurs für Schwesternhelferin belegt, um als häusliche Krankenpflegerin aktiv sein zu können. Bevor ich im Hospiz aktiv wurde habe ich eine Nachbarin meiner Mutter bekleidet und betreut. Die Dame im Alter von 98 Jahren war alleinlebend und bis ins hohe Alter sehr aktiv. Infolge eines Unfalles war sie ans Haus gebunden und musste Hilfe in Anspruch nehmen. Sie bewohnte das erste Stockwerk. Jeder der Nachbarn, die am Haus vorbeigingen, oder auch nur aus der Tür oder dem Fenster herausschauten, blickten zu ihr hoch. War sie am Fenster, wurde gewunken. Eines Tages, sie war `mal wieder alleine zu Hause, wollte sie das Fenster öffnen und übersah dabei, dass dieses schon gekippt war. Sie stand auf einem Schemel und da sie mit Nachdruck versuchte das Fenster zu öffnen, kippte sie nach vorne und klemmte sich mit dem Oberkörper in das gekippt geöffnete Fenster. Gott sei Dank wurde dieser Vorfall beobachtet und da der Schlüssel so platziert war, die Nachbarn wussten das, dass man ihr helfen konnte, konnte man sie aus ihrer misslichen Lage befreien. Die Fensterverriegelung wurde danach abschließbar verriegelt.

Ruth Schweigert

Dritte Gute Nachbarschaftsgeschichte

Mein Vater war 94 Jahre alt, als er verstarb. Nach dem Tod meiner Mutter hatte ich seine Betreuung übernommen. Wenn ich außer Haus war bat ich die Nachbarin, ab und zu, nach ihm zu sehen. Ich verließ das Haus nur, wenn er schlief. Die Nachbarin hatte meine Rufnummer. So konnte ich beruhigt meine Besorgungen machen.

Ruth Schweigert

Vierte Gute Nachbarschaftsgeschichte

Einmal kam ich von einem Einkauf zurück. Mein Vater lag im Wohnzimmer auf dem Boden. Als ich ihn fragte, was er da unten mache, sagte er mir, ihm seien seine Zähne runtergefallen und er wollte sie aufheben, kam aber nicht an sie heran. Mein Vater ein großer, schwerer Mann, wollte nie jemand zur Last fallen. Aus eigener Kraft konnte er nicht aufstehen und sich von mir helfen lassen wurde abgelehnt, als wollte er mir damit sagen: „ich bin doch kein kleines Kind mehr, das kann ich alleine“. Ich rief einen Nachbarn an, der ohne Erklärungen fragend, sofort kam. In der Nachbarschaft war der Sturkopf ausreichend bekannt. Der Nachbar fragte nicht lange und hob ihn auf. Dann erst ließ er sich von mir die Situation erklären, denn es hätte ja auch sein können, dass er aus welchem Grund auch immer hingefallen wäre.

Ruth Schweigert

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